Kapitel II
Bruegels Jahreszeiten
Stellen Sie sich vor: Antwerpen, 1566:
Der Kaufmann Nicolaes Jonghelinck verbringt den Frühling in seiner Villa außerhalb der Stadt Antwerpen.
Er lädt zu einem Gastmahl in seinem neu dekorierten Speisesaal. Zwischen den Fenstern prangen sechs riesige Landschaften des Künstlers Pieter Bruegel d. Ä. Die Bilder erwecken Aufsehen – noch nie haben die Gäste derart großformatige Landschaften gesehen.
Das Thema der Darstellungen ist ihnen jedoch nicht ganz unbekannt: Die Gemälde zeigen die Jahreszeiten oder Monate, wie sie bis dato in Kupferstichen oder Kalendern geschildert wurden. Doch in Bruegels Bildern ist einiges anders.
Der Mensch – ein Teil der Natur
War es bisher üblich, die Arbeiten und Aufgaben der ländlichen Bevölkerung im Verlauf eines Jahres in den Mittelpunkt zu stellen, rückt Bruegel die Natur selbst in den Fokus.
Landschaft und Wetter bestimmen die Darstellungen, während die Menschen eine untergeordnete Rolle spielen, ihren typischen und wiedererkennbaren Tätigkeiten aber nach wie vor nachgehen.
In Jonghelincks Anwesen hängen die Jahreszeiten-Gemälde wohl rundum an allen vier Wänden des Speisesaals. Zwischen den Bildern stehen vielleicht Statuen der Planeten. Somit wird der Speisesaal zu einem Modell des Kosmos, in dem der Mensch seinen Platz findet.
Lang kann sich Jonghelinck aber nicht an seinen Gemälden erfreuen, er starb bereits 1570. 1594 kaufte die Stadt Antwerpen die Bilder und schenkte sie dem neuen Statthalter der Niederlande: Erzherzog Ernst von Österreich.
Im 16. Jahrhundert wurde es zur Mode, dass wohlhabende Bürger und Adelige Landhäuser außerhalb der Städte errichteten, um sich fernab der städtischen Hektik zurückzuziehen. Diese Landhäuser, oft im Stil antiker römischer Villen gebaut, brachten den sozialen Status und die Bildung ihrer Besitzer*innen zum Ausdruck. Sie wurden zu Orten der Erholung, Kunst und Literatur inmitten der Natur.
1
Pieter Bruegel d.Ä., Der düstere Tag (Vorfrühling), 1565. Wien, Kunsthistorisches Museum, Gemäldegalerie © KHM-Museumsverband
2
Pieter Bruegel d.Ä., Die Heuernte (Frühsommer), 1565. Prag, Palais Lobkowicz, Prager Burg © The Lobkowicz Collections, Palais Lobkowicz
3
Pieter Bruegel d.Ä., Die Kornernte (Spätsommer), 1565. New York, The Metropolitan Museum of Art, Rogers Fund, 1919 © Metropolitan Museum of Art,
4
Pieter Bruegel d.Ä., Die Heimkehr der Herde (Herbst), 1565. Wien, Kunsthistorisches Museum, Gemäldegalerie © KHM-Museumsverband
5
Pieter Bruegel d.Ä., Die Jäger im Schnee (Winter), 1565. Wien, Kunsthistorisches Museum, Gemäldegalerie © KHM-Museumsverband
Sechs Jahreszeiten, nicht vier!
Was uns heute erstaunen lässt, war damals gar nicht so ungewöhnlich.
Bruegel teilte das Jahr in sechs Jahreszeiten, nicht vier. Diese Einteilung entsprach in etwa dem bäuerlichen Arbeitsrhythmus. .
Leider sind heute nur noch fünf der einst sechs Gemälde erhalten. Die kühlen Jahreszeiten (Herbst, Winter und Vorfrühling) befinden sich heute im Kunsthistorischen Museum, der Frühsommer in Prag und der Sommer in New York. Der Frühling ging wohl bereits im 17. Jahrhundert verloren.
Nach der Natur?!
Auch wenn Bruegels Landschaften sehr natürlich und authentisch wirken, sind sie doch erfundene Landschaften. Das beste Beispiel sind die riesigen Gebirgszüge in seinen Bildern.
Die felsigen Berge sieht Bruegel nicht in seiner niederländischen Heimat, vielmehr bringt er sie als eine Art Souvenir von seiner Reise über die Alpen mit. Auch der Almabtrieb im Herbst ist eine Erinnerung an diese Reise. Beides integriert er erfolgreich und eindrucksvoll in seine flachen, flämischen Dorflandschaften.


Bruegels erster Biograph Karel van Mander meinte hierzu:
„Auf seinen Reisen hat er … nach der Natur gezeichnet, so dass gesagt wird, er habe, als er in den Alpen war, all die Berge und Felsen verschluckt und sie … auf Leinwände und Malbretter wieder ausgespien, so nahe vermochte er in dieser und anderer Beziehung der Natur zu kommen.“


Auf den Hund gekommen!
Bruegel wusste auch wie kein anderer der damaligen Zeit, Tiere mit viel Gefühl darzustellen. Abgemagert, mit gesträubtem Fell und eingezogenen Schwänzen ist klar, wie hundeelend sich die Tiere im kalten Winter fühlen.
Es sind auch die Tiere – Hund und Vieh – die den Blickkontakt zu den Betrachtenden vor dem Bild aufnehmen, nicht die Menschen.
Arbeit und Freizeit
6–8 h
im Winter
12–16 h
während der Erntezeit
Work-Life-Balance im 16. Jahrhundert
Das Leben der bäuerlichen Bevölkerung war sowohl durch den Rhythmus der Jahreszeiten als auch durch religiöse Feste geprägt. Je nach Jahreszeit schwankte die tägliche Arbeitszeit zwischen 6–8 Stunden im Winter und bis zu 12–16 Stunden während der Erntezeit. Auf ein Jahr kamen in etwa 200–220 Arbeitstage, 120–150 Tage waren Sonn- oder Festtage, an denen die Arbeit (bis auf die Tätigkeiten im Haushalt) ruhte. Österreichische Angestellte arbeiten heute auch noch 220 Tage pro Jahr.
Keep calm and carry on! Leben versus Überleben
In den Gemälden Bruegels folgt der Mensch seinen täglichen Arbeiten bei jeder noch so bedrohlichen Witterung – Überschwemmungen und eisiger Kälte zum Trotz. Aber nicht nur die Natur bedroht die menschliche Existenz, es sind auch politische und gesellschaftliche Konflikte – im Bild ebenfalls durch Galgen und Räder als Hinrichtungsstätten allgegenwärtig. Trotzdem geben die Menschen sich nicht geschlagen und schaffen es auch in harten Zeiten, ihr Leben zu genießen. Bruegel schickt sie aufs Eis zum Schlittschuhlaufen und Eisstockschießen oder lässt sie verkleidet für die Faschingszeit und Waffeln essend nach Hause kehren.



